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"LÜCKEKINDER" IM FOKUS DER WISSENSCHAFT

Ulmer Forschergruppe untersucht Lebenswelt von 10- bis 14Jährigen

Veröffentlicht am 28.09.2015

Gemeinsam Fußball spielen, in "rosa Hütte" chillen

Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 14 Jahren betrachten die Schule nicht nur unter Leistungsaspekten, sondern sehen sie als "Freizeitort", um Freunde zu treffen und Spiel´ und Sportstätten zu nutzen. Generell verbringt diese Altersgruppe ihre Freizeit gern "draußen" an Sport- und Skateplätzen, auf dem Schulhof und geht gern "in die Stadt". Mädchen und Jungen wünschen sich mehr altersadäquate Freizeitangebote in öffentlichen Räumen, um gemeinsam "abzuhängen" und zu "chillen". Diese Aussagen gehen aus einer qualitativen Pilotstudie zum Thema "Die soziale Welt der Lückekinder – Analyse einer vergessenen Gruppe" hervor.
Expertin in eigener Sache: "Lückekind" Mara (14) im Gespräch mit Projektmitarbeiterin Manuela Gulde
Mit Förderung der Stiftung Ravensburger Verlag (200.000 Euro) führt eine Ulmer Forschergruppe unter Leitung von Professor Dr. Jörg M. Fegert und Professorin Dr. Ute Ziegenhain (Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie in Ulm) eine qualitative Studie zu dieser Altersgruppe durch, deren erste Ergebnisse bei einer Fachtagung in Berlin vorgestellt werden. Die Lebensfeldexpertise soll Handlungsfelder für Eltern und Jugendhilfe aufzeigen.

Lost in Transition – zwischen Vorpubertät und früher Jugendphase

Wohin, wenn man zu alt ist für den Kinderspielplatz und zu jung für den Jugendtreff im Wohnviertel und für den Club, in dem 16jährige Partys feiern?

Wenn man kein Kind mehr, aber noch kein Jugendlicher ist? Die Altersgruppe der 10- bis 14-jährigen wird in Forschung und Öffentlichkeit als "späte Kindheit" oder "Vorpubertät" benannt und wurde wissenschaftlich bislang kaum systematisch beachtet.
"Es gibt fast keine abgesicherten Aussagen zu den entwicklungspsychologischen und soziokulturellen Besonderheiten dieser Altersgruppe", berichtet Professor Jörg M. Fegert. "Dabei werden gerade in dieser Phase des Heranwachsens entscheidende Weichen für eine gelingende oder weniger glückende Jugendzeit gestellt."

Kinder als Experten in eigener Sache

Die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, haben sich verändert, die Kindheitsforschung spricht von einer "Verfrühung der Jugendphase". Dies betrifft nicht nur die Nutzung der vernetzten Medienwelt, sondern auch gestiegene Leistungsanforderungen durch die verkürzte Gymnasialzeit und die Ganztagsschule.
Die Pilotstudie zeigt modellhaft im Sinne einer "Probebohrung" Ergebnisse aus ausführlichen, mehrmaligen, intensiven Interviews mit ca. 30 Kindern, auch Eltern sowie kommunalpolitischen Entscheidungsträgern. Qualitative Forschung wird immer dann angewendet, wenn kaum Datenmaterial zum Forschungsthema vorliegt. Es bildet die Grundlage für weitere Forschungen mit quantitativen und qualitativen Fragestellungen.
Lost in Transition: "Lückekind" Lutz (14) im Gespräch mit Projektmitarbeiterin Manuela Gulde

Spaziergänge zu Lieblingsplätzen

Zusätzlich wurden die Kinder von jungen Wissenschaftlerinnen auch auf Spaziergänge zu ihren Lieblingsplätzen begleitet, sogenannte Neighbourhood Walks, eine wissenschaftliche Methode, die besondere Aufschlüsse für die kommunale Jugendpolitik liefern kann.

Die befragten Kinder kamen aus städtischen und ländlichen Gebieten Baden-Württembergs, es waren gleich viele Jungen und Mädchen, die Gemeinschaftsschulen der Standorte Stuttgart, Ulm, Reutlingen und Ravensburg besuchen.
In dieser Pilotstudie bewusst noch nicht berücksichtigt wurden Kinder aus psychosozial belasteten Familien und Kinder mit Migrationshintergrund, die nicht von Geburt an in Deutschland leben.

Erste Ergebnisse des Pilotprojekts

In der Fachtagung "Lückekinder – eine vergessene Gruppe?", die heute im Berliner Vivantes Klinikum im Friedrichshain mit ca. 80 Verantwortlichen aus der Praxis stattfindet (Kommunale Jugendhilfe, Träger von Jugendeinrichtungen, Therapeut/innen aus Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Vertreter/innen aus der Bildungs-, Sozial- und Jugendpolitik), stellt das Ulmer Forschungsteam die bisherigen Ergebnisse des Pilotprojekts vor. Zusammengefasst lauten diese:
  • Jungen und Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren unterscheiden sich prinzipiell nicht in Bedürfnissen und Verhalten. Sie wünschen sich Freizeitorte und kommunale Angebote außerhalb des Elternhauses, zum Beispiel Parkanlagen, Jugendtreffs, Parcours für Sport und HipHop-Tanz. Allerdings wollen sie dort unterschiedlichen Interessen nachgehen: Mädchen möchten sich am liebsten mit Freundinnen in eine "rosa Hütte" zurückziehen; manche Mädchen würden auch gern Fußball spielen, aber dies ist nach wie vor eher ein Jungenwunsch; Jungen dieses Alters bevorzugen gemeinsame Aktivitäten vor allem in Bewegungsspiel und Sport.
  • Die Institution Schule wird zunehmend als "Freizeitort" anerkannt, um Freunde zu treffen und ihre Spiel- und Sportstätten zu nutzen, wobei Zustand und Aufteilung von Gebäuden und Außengelände oft bemängelt werden. Trotz dieser positiven Vermischung von Schule und Freizeit erleben besonders Mädchen den Lernbetrieb als sehr fordernd und nannten Probleme im Schulalltag, wobei am häufigsten als unfair empfundenes Lehrerverhalten genannt wird (Strafarbeiten, Nachsitzen, u, ä.).
  • Die digitalen Medien nutzen die befragten 10- bis 14-jährigen noch nicht zur Selbstdarstellung, sondern für konkrete Zwecke: WhatsApp als Kommunikationsmittel, Computerspiele, Recherchen für Schulaufgaben, youtube-Filme. Sie betrachten die Gefahren der Medienwelt kritisch (Mobbing, "Facebook-Sucht", Datenmissbrauch) und akzeptieren die Vorgaben ihrer Eltern, die im Übrigen oft gemeinsam ausgehandelt wurden.
  • Von ihren Eltern fühlen sich diese Kinder wertgeschätzt und nutzen sie als Ressource, Ratgeber, Vertrauenspersonen, um sich in der sozialen Lebenswelt zurecht zu finden.
  • Obwohl die gleichaltrigen Freunde als sehr wichtige Stütze und Vertrauenspersonen gelten und auch erste Ablösungstendenzen von den Eltern sichtbar werden, die sich zum Beispiel in Tabuthemen äußern, genießt die Familie für diese Altersgruppe einen hohen Stellenwert. Die "Lückekinder" wünschen sich gemeinsame Familienzeit, Urlaub, Ausflüge und dass die Eltern weniger Zeit für ihren Beruf aufbringen.

In einer ersten Gesamtauswertung kommt das Forschungsteam zum Schluss, dass diese Altersgruppe Freiräume und Experimentierfelder braucht, offene Angebote eher als vorstrukturierte Möglichkeiten, ihre freie Zeit zu gestalten.

Kommunen sollten Freizeitpädagogik verbessern

Von der Forschungsstudie erwartet die Stiftung Ravensburger Verlag Vorschläge für eine verbesserte soziale, bildungsbezogene und freizeitpädagogische Förderung von "Lückekindern".

Dazu sagt Stiftungsvorsitzende Dorothee Hess-Maier: "Gerade die älteren Kinder und frühen Jugendlichen gehören oft zu den stummen Mitbürgern, und Eltern sind oft hilflos gegenüber ihrer Verschlossenheit. Sie benötigen Angebote, sowohl im öffentlichen als auch im schulischen und familiären Raum sowie verständnisvolle Begleitung. So mancher Kommunalpolitiker glaubt, es genüge, das Jugendschutzgesetz korrekt anzuwenden."
Für den Spielplatz zu groß: "Lückekind" Severin (14) im Gespräch mit Projektmitarbeiterin Manuela Gulde
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