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MEIN GOTT, DEIN GOTT - KEIN GOTT?

Ergebnisse der Fachtagung 2012 in Stuttgart

Von Raphael Rauch

Veröffentlicht am 09.07.2012

Über 200 Vertreterinnen und Vertreter aus Kita-Einrichtungen, Trägerverbänden, Politik und Religion haben am 2. Juli 2012 bei einer Fachtagung in Stuttgart Ergebnisse und Empfehlungen der ersten bundesweiten Studie zur interreligiösen Bildung in deutschen Kitas diskutiert. Die Stiftung Ravensburger Verlag hatte das Forschungsprojekt der Universität Tübingen mehrere Jahre lang finanziell gefördert, begleitet und mitgetragen. Den Ergebnissen der Studie zufolge fristet das Thema Religion an vielen deutschen Kitas nur ein Schattendasein. Zum Beispiel fühlen sich viele Erzieherinnen in Fragen der interreligiösen Bildung schlecht ausgebildet. Nur sieben Prozent der untersuchten Kitas organisieren einen Moscheebesuch.
Die Vorsitzende der Stiftung Ravensburger Verlag, Dorothee Hess-Maier, forderte die Bildungspolitik daher zum Handeln auf: "Die Umsetzung für die Praxis muss mit allen politischen Möglichkeiten unterstützt und beim anstehenden Ausbau der Einrichtungen konsequent berücksichtigt werden."

Dr. Frank Mentrup, Staatssekretär im baden-württembergischen Kultusministerium, machte den Erzieherinnen Mut, ihr religiöses Profil auch in der Kita zu zeigen. "Kinder brauchen den Kontakt zu Menschen, die zu ihrem Bekenntnis stehen und Vorbilder auch in religiösen Fragen sind."
Zugleich wies Mentrup auf den "systemischen Widerspruch" hin, dem Kitas in kirchlicher Trägerschaft ausgesetzt seien: Einerseits sollten diese Interreligiosität leben, andererseits dürften die Erzieherinnen nur der christlichen Religion angehören.

Diesem Konfliktfeld müssten sich Wissenschaft und Politik gemeinsam widmen, forderte Dr. Friedrich Schweitzer, Professor für evangelische Religionspädagogik, der zusammen mit seinem Kollegen Dr. Albert Biesinger, Professor für katholische Religionspädagogik, und Dr. Anke Edelbrock, Akademische Rätin für evangelische Religionspädagogik, das Forschungsprojekt "Interkulturelles und interreligiöses Lernen in Kindertagesstätten" verantwortete.
Mit der Anstellung muslimischer Erzieherinnen allein sei es noch längst nicht getan, sagte Schweitzer. "Es geht darum, Pläne zu entwickeln, wie durch die Anstellung ein weiterführendes Konzept erreicht werden kann. Dafür brauchen wir dringend eine wissenschaftliche Begleitung." Zwar betonte Mentrup, dass die Kitas erst am Anfang einer großen Diskussion stünden und "sich erst mal auf den Weg machen müssen, bevor eine Evaluation gestartet wird".

Allerdings kann sich der Kultusstaatssekretär vorstellen, Einrichtungen, die verstärkt interreligiös arbeiten möchten, gezielt zu begleiten. Kitas, die künftig muslimische Erzieherinnen einstellen möchten, könnten beispielsweise gesondert unterstützt werden.
Wann dies der Fall sein wird, konnte Frank Jansen, Geschäftsführer des Bundesverbandes Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK), freilich nicht verraten. Allerdings führe er bereits Gespräche mit der Bischofskonferenz über die Anstellung muslimischer Erzieherinnen. Das christliche Profil des Trägers solle gewahrt werden. Doch auch katholische Kitas müssten sich den gesellschaftlichen Veränderungen stellen.

"Im Ruhrgebiet zum Beispiel, wo der Anteil von muslimischen Kindern bei über 70 Prozent liegt, sollten wir darüber nachdenken, unter welchen Voraussetzungen es möglich ist, muslimische Kollegen anzustellen. Wir haben das Problem erkannt, und wir arbeiten daran", sagte Jansen. Zugleich forderte er, den Orientierungsplan in Baden-Württemberg verbindlich festzuschreiben.
Muhterem Aras, finanzpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, betonte den Stellenwert der interreligiösen Bildung. "Ich bin dafür, dass die Kinder die Weltreligionen kennen lernen. Gerade in der hiesigen Gesellschaft können wir über diesen wichtigen Bereich gar nicht genug wissen."

Jedoch verwies sie auch auf die Sparanstrengungen des Landes. "Wir können nicht alle Mittel aufstocken und alle Kitas gleich ausstatten." Stattdessen sollten Kitas mit hohem Migrantenanteil oder in sozial schwachen Stadtteilen bevorzugt berücksichtigt werden.
André Dupuis, Vertreter der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, hatte sich von der Politik ein stärkeres finanzielles Engagement erhofft. "Es fehlt an erklärtem Willen, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Wir erleben es immer wieder, dass Erzieherinnen mit neuen Programmen beglückt werden, sich an den Bedingungen aber nichts ändert."
Laut dem muslimischen Vertreter Moussa Al-Hassan Diaw, der im Fach Islamische Religionspädagogik in Osnabrück promoviert, haben nach wie vor "viele Muslime das Gefühl, als Problem wahrgenommen zu werden". Als aktuelles Beispiel nannte er das Beschneidungsurteil. "Das ist ein falsches Signal: Ihr seid willkommen, aber mit eurer Tradition gehört ihr nicht vollständig dazu."
Landesrabbiner Netanel Wurmser, der die Bemühungen um einen interreligiösen Dialog begrüßte, warnte vor zu hohen Erwartungen an die Kinder. "Ich möchte vor allzu großem Optimismus warnen, denn was wir als Erwachsene im Dialog der Religionen nicht auf die Reihe kriegen, wird sehr schwer, auch den kleinen Kindern zu vermitteln."
Pfarrer Georg Hohl, Vorsitzender der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder (BETA), möchte Religion nicht nur auf Wertefragen reduziert sehen. "Über Werte können wir uns doch schnell verständigen. Religion ist aber kein Zweck für Wertezusammenhänge. Wir müssen in dieser Gesellschaft die Kräfte stärken, damit Orientierungen und Grundüberzeugungen lebendig gehalten werden, aus denen sich dann Werte speisen können. Religion ist mehr als nur Werte."

Wie viel darf interreligiöse Bildung kosten?

Die Fachtagung zeichnete somit ein klares Bild von Konsens und Dissens in Sachen interreligiöse Bildung in der Kita. Während alle Vertreter die Wichtigkeit der interreligiösen Bildung betonten – nicht nur mit Blick auf integrationspolitische oder friedenserzieherische Zwecke, sondern auch mit Blick auf das Recht des Kindes auf Religion und die positive Wirkung von Religion auf die Entwicklung des Kindes –, gingen die Meinungen darüber auseinander, wie viel interreligiöse Bildung kosten darf und welche Priorität sie bei eventuellen Sparmaßnahmen erhalten sollte.
"Ich warne davor, einzelne Bildungsziele zu isolieren und beispielsweise Sprachförderung gegen interreligiöse Bildung auszuspielen", sagte Schweitzer. Biesinger betonte, dass oftmals nicht das Geld, sondern der politische Wille das Problem sei. "Wenn man Fortbildungen für das Bildungsfeld Sinn-Werte-Religion konzipiert, dann kostet das keine Millionenbeträge. Man muss es nur wollen", sagte Biesinger.
Strittig war auch die Frage nach der Verbindlichkeit der Orientierungspläne – und wie mit Kitas umzugehen ist, die keine interreligiöse Bildung anbieten. Agnes Christner, Dezernentin für Jugend, Familie und Soziales beim Städtetag Baden-Württemberg, bekannte, dass "sich die städtischen Einrichtungen bei der Ausübung religiöser Rituale zurückhalten und ihre Aufgabe auch nicht in der Vermittlung von Glaubensinhalten oder in der religiösen Begleitung sehen".
Dies bedeute aber nicht, dass die Kinder mit ihren religiösen Fragen allein gelassen würden. Dem entgegnete Friedrich Schweitzer: "Die Erzieherinnen haben ein Recht auf klare Richtlinien und dürfen mit dieser Unsicherheit nicht allein gelassen werden." Albert Biesinger ergänzte: "Gott hat in jeder Kita seinen Platz. Das muss jede Erzieherin wissen, auch die, die nicht für einen kirchlichen Träger arbeitet."

"Es gibt noch viel zu tun. Wir müssen vor allem an der Willkommenskultur arbeiten", plädierte Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks (SWR). Dies bestätigten auch die Erzieherinnen Alexandra Claß, Christiane Lempp-Würschum und Heiderose Obexer, die die interreligiösen Projekte des Kindergartens St. Rita in Reutlingen, des Matthäus-Kindergartens in Stuttgart-Heslach und des kommunalen Kindergartens Au in Dußlingen vorstellten. Der Schlüssel zur erfolgreichen interreligiösen Bildungsarbeit, so die Erzieherinnen, liege in der Elternarbeit. Dies betonte ebenso Anke Edelbrock: "Sprechen Sie die Eltern im Aufnahmegespräch auf religiöse Fragen und familiäre Prägungen an und nutzen Sie die religiöse Kompetenz der Eltern. Sie können nicht Expertinnen für alle Religionen werden – aber Sie können die Eltern und Angehörigen dieser Religionen in die Kita einladen", sagte Edelbrock.
In der Podiumsdiskussion am Nachmittag vervollständigten die Referenten in ihren Schlussstatements folgenden Satz:

"Ich setze mich für die interreligiöse Bildung in Kitas ein, indem ich…"
"... indem ich darauf achten werde, dass bei den Haushaltsberatungen der Bereich nicht zu kurz kommt."
(Muhterem Aras, Finanzpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg))

"... indem ich die Ergebnisse der heutigen Tagung in all unsere Mitgliedsstädte transportiere."
(Agnes Christner, Städtetag Baden-Württemberg)

"... indem ich dieses Thema bei meinem Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik aufgreife."
(Moussa Al-Hassan Diaw, Doktorand an der Universität Osnabrück)

"… indem ich die Empfehlungen und Ergebnisse in die gewerkschaftliche Diskussion und in unsere Gremien mitnehme, sie dort einspeise und sie sich demnächst dort auch wiederfinden."
(André Dupuis, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft)

"... indem wir in alle Mitgliedseinrichtungen die Ergebnisse weitertragen und uns zugleich für die Verbindlichkeit des Orientierungsplans einsetzen."
(Georg Hohl, Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder e.V./BETA)

"... indem wir die Kooperationsbeziehungen zur Uni Tübingen ausbauen und das KTK-Gütesiegel auf Grundlage der Ergebnisse der Studie weiterentwickeln."
(Frank Jansen, Geschäftsführer Bundesverband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder/KTK)

"…indem ich bereit bin, immer an dem Thema der interreligiösen Bildungsarbeit teilzunehmen und sie zu fördern, denn sie ist das beste Mittel für Menschlichkeit und gegen die Bildung von Vorurteilen."
(Netanel Wurmser, Landesrabbiner in Württemberg)
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